Astronomie ist viel mehr als "Sterne gucken"
Blinder Astronom berichtet über Sterne, Vorurteile und Inklusion
Bruchsal (cvr). Es ist schon etwas schönes, wenn man ein Hobby ausübt. Es ist etwas besonderes, wenn dieses Hobby so umfangreich und vielschichtig ist, wie die Astronomie. Aber es ist schon erstaunlich, wenn der Hobbyastronom noch nie einen Stern gesehen hat und auch keinen sehen wird, und trotzdem über die Astronomie Vorträge hält und ein Buch geschrieben hat.
Gerhard Jaworek ist blind. Der Diplom-Informatiker arbeitet am Studienzentrum für Sehgeschädigte (SZS) am KIT in Karlsruhe und ist seit seiner Kindheit vom Weltall fasziniert. Dabei kämpft er gegen Vorurteile - gegenüber blinden Menschen, aber auch gegenüber der Astronomie, die oft auf die Arbeit mit dem Teleskop reduziert wird.
"Wir Astronomen sind sehr genügsam - das, was wir sehen, macht nur vier Prozent vom Universum aus", so Jaworek, der an diesem Abend sein Publikum im Bruchsaler Vinzentiushaus in seinen Bann zieht. "Stellen Sie sich mal vor, Sie könnten nur vier Prozent ihres Fernsehbildschirms betrachten!" fügt er schmunzelnd hinzu.
Überhaupt war der Vortrag, der anlässlich des 30-jährigen Bestehens des Sozialpsychiatrischen Dienstes stattfand, locker und interaktiv. "Es geht uns auch täglich um die Inklusion", so Bereichsleiterin Caritas Gemeindepsychiatrie Eva Zagermann, die nach der Caritas Vorstandsvorsitzenden Sabina Stemann-Fuchs die Gäste begrüßte. Und tatsächlich zeigte der Vortrag sehr deutlich, wie Inklusion durch die Astronomie ermöglicht wird. "Nicht jeder Zugang zur Astronomie passt für alle, aber für alle gibt es einen Zugang", versicherte Gerhard Jaworek.
Die optische Astronomie "so richtig klassisch mit Teleskop", sei ja nur ein Bruchteil dieser Wissenschaft und heute durch "von Menschen gemachte Lichtverschmutzung" sehr schwer hobbymäßig auszuführen. "Astronomie ist viel mehr als nur Sterne gucken", so Jaworek, dessen Buch "Blind zu den Sternen: Mein Weg als Astronom" nach dem Vortrag auf großes Interesse stieß.
Als Beispiel der Radioastronomie spielt er Sonnenwindaufnahmen vor und lässt die Umlaufbahnen-Daten der Planeten als vertontes Musikwerk erklingen. Die Zuschauer hören wie der "Lander" der Cassini-Huygens-Mission durch die Atmosphäre des Saturnmondes Titan rauscht. Jaworek zeigt tastbare Sternenkarten und lässt 3-D-Modelle vom Mond, der Erde und Kometen anfassen. Mancher aus dem Publikum schließt die Augen, versucht nachzuempfinden, wie es ist, wenn die Augen, die ja über 80 Prozent der Information aufnehmen, nicht mehr mithelfen.
Er spricht von Schlüsselerlebnissen und Faszination und irgendwie vergisst das Publikum im Laufe des Vortrags, dass er noch nie einen Stern gesehen hat und auch nur einmal durch ein Teleskop geschaut hat. Wenn er über die Sonnenfinsternis 1999, die er im Schlosspark in Karlsruhe mit vielen anderen erlebt hat, spricht, dann rückt seine Begeisterung noch mehr in den Vordergrund. Überhaupt liebt er es mit sehenden Menschen "Sterne gucken" zu gehen und ihr Staunen zu erfahren.
Aber auch wenn er über die Arbeit mit Schulklassen berichtet, kann man gut verstehen, dass auch der unruhigste Schüler angesichts des Universums ganz still wird, wenn er auf einer Wiese liegt und erfährt, dass er tatsächlich selbst aus Sternenstaub entstanden ist, und eine philosophische Geschichte über die Sterne hört. Und hier gibt Jaworek wieder einen Einblick in die Chance, die ihm sein Handicap bietet: "Ich kann ohne Licht nachts eine Geschichte in Brailleschrift vorlesen." Auch dass er nachts Teleskope "blind" bedienen kann, hat schon manchen anderen Astronom aus der Patsche geholfen.
Die Inklusion liegt ihm sehr am Herzen. "Inklusion beginnt mit der Erkenntnis, dass es den nicht-eingeschränkten Menschen nicht gibt", erklärt Gerhard Jaworek, der auch schon bei der Entwicklung verschiedener technischer Hilfen für Sehbehinderte mitgewirkt hat. Sehr viele bedeutende Astronomen waren behindert - Johannes Kepler war stark sehbehindert und auf Tycho Brahe für die Daten seiner bahnbrechenden Berechnungen angewiesen, "John Goodricke war zu einhundert Prozent gehörlos" und Stephen Hawking sitzt im Rollstuhl. "Vielleicht", mutmaßt Gerhard Jaworek, "wurden sie durch ihre Herausforderungen zu Höchstleistungen gebracht. Man kann aus einer Sache emporsteigen, oder daran zu Grunde gehen."